Die Antragstellung 

auf Entschädigung


Die Schwestern Regina, Mary und Esther entschließen sich im Juli 1957 um die Anerkennung als Leidtragende des Unrechts zu kämpfen, das ihren Eltern und Geschwistern angetan wurde. Die jahrelangen Verfahren werden von mir in "Die Korrespondenz der überlebenden Schwestern der Familie Ebe  und den Entschädigungsbehörden" (***) detailliert dargelegt.    


Anlass für ihre Antragstellung war die Verabschiedung des Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung (Kurztitel: Bundesentschädigungsgesetz, Abkürzung: BEG),  die am 29. Juni 1956 rückwirkend zum 1. Oktober 1953 in der Bundesrepublik erfolgte, nachdem die ursprüngliche Vorlage vom 18. September 1953 keine Berücksichtigung gefunden hatte.  Das Gesetz versteht sich als Teil der deutschen Wiedergutmachungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg und sollte eine Möglichkeit bieten, Personen, die während der Zeit des Nationalsozialismus aus politischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden und dadurch Schäden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum oder Vermögen sowie im beruflichen oder wirtschaftlichen Fortkommen erlitten haben, eine finanzielle Entschädigung zu gewähren.    


Nicht alle Geschädigten des NS-Regimes nehmen die Entschädigungsleistungen dieses Gesetzes in Anspruch. Viele unterlassen die Antragstellung aus Angst, durch das Verfahren Erinnerungen an die erlittenen Qualen erneut durchleben zu müssen. Andere befürchten den Kontakt zu deutschen Behörden, ihren ehemaligen Verfolgern.

     

Stellen wir uns die Schwestern zu jener Zeit vor. Mary und Esther leben in New York/ USA, die älteste Schwester Regina in Paris/Frankreich. Lange plagte sie die Ungewissheit, was mit den Eltern und Geschwistern geschehen ist. Mehr und mehr sickern Nachrichten über die Gräueltaten während der zwölfjährigen NS-Herrschaft zu ihnen durch. Allmählich müssen sie begreifen, dass ihre Angehörigen tot sind. Vielleicht haben sie erfahren, dass auch viele ihrer Hannoveraner Verwandten während der „Polenaktion“ nach Zbąszyń /Bentschen ausgewiesen wurden, in einem Internierungslager inhaftiert und später ins Warschauer Ghetto deportiert wurden. Darunter ist – so erfährt man heute aus den Deportationslisten - Bernhard Ebe (geb. am 29.08.1926 in Hannover), Icek Ebe (geb. am 02.10.1890 in Warschau), Leo Ebe (geb. am 23.06.1925 in Hannover), Nelli Ebe (geb. am  01. 08.1931 in Hannover) und Sara Ebe, geb. Landmann (geb. am 20.06.1902 in Tarnow). Der Todeszeitpunkt aller ist unbekannt. Die am 04.01.1920 geborene Verwandte Hanni Ebe, als deren Aufenthaltsort während des Krieges das in Bayern befindliche Konzentrationslager Flossenbürg genannt wird, gilt als verschollen. Auch viele der in Polen lebenden Verwandten wurden sicher umgebracht. Für Esther entsteht die Gewissheit, dass ihre Freundin Hertha Hahn (geb. 09.03.1922 in Frankfurt/Main), mit deren Visum sie selbst sich nach England hat retten können, mit ihrer Mutter Recha (Rosa) (geb. Hamburger am 17.10.1892 in Langenselbold) und ihrem Vater Gustav Hahn (geb. 11.09.1886 in Frankfurt/Main), bei der ersten großen Deportation nach Litzmannstadt (Lodz) am 20.10.1941 in das Ghetto deportiert und umgebracht wurde. Auch wird sie erfahren haben, dass ihre Schwiegereltern Hedwig Kleczewski (geb. am 13.12.1890 Fleischmann in Berlin) und Markus (Max) Kleczewski (geb. 29.11.1885 in Thorn (Toruń) /Polen) am 13. Januar 1942 von der Sammelstelle Levetzowstraße in Berlin ins Ghetto nach Riga deportiert und umgebracht wurden. (In den Gedenkbüchern Riga gibt es darüber hinaus noch acht weitere Personen mit dem Nachnamen Kleczewski.) (Auskunft über Deportatiosnlisten: Hartmut Schmidt, Vorsitzender der Frankfurter Initiative Stolpersteine.)

    

Entsprechend ist 1957 die psychische und physische Verfassung der Schwestern. Esther (geb. am 05.12.1920) lebt von den Ereignissen gezeichnet und in großer finanzieller Not in New York. Sie hatte überlebt, da sie als Jüngste  keinen polnischen Pass besaß und an der Grenze zu Polen im Oktober 1939 ausgesondert wurde. Sie konnte nach Frankfurt zurückkehren, später nach England flüchten. Dort heiratet sie Rudi Kleczewski, einen Berliner. Umbenannt in Clifford, emigrieren sie 1948 in die USA. Esther und Rudi leben unter dem Existenzminimum. Das Deutsche Generalkonsulat in New York bescheinigt ihre Bedürftigkeit. - Die Lage Reginas (geb. am 13.12.1908), die seit 1933 im Untergrund in Frankreich lebte, ist nicht besser. Sie erklärt in ihrem Entschädigungsantrag vom 23.07.1957, dass sie unter den schrecklichen Bedingungen während des Krieges ihr Leben lang gelitten hat. -  Über Marys (geb. am 15.04.1911) Befindlichkeit finde ich nichts. Mit ihrem Ehemann Arthur Halberstadt konnte sie von München nach Shanghai fliehen und reparierte dort, so erzählt Henry Rosenthal mir im Mai 2018, als Absolventin der Kunstschule in Offenbach, dem deutschen Konsul die Teppiche. 1947 wandern sie in die USA ein.                                                                                                                

    

Für die Anträge auf Entschädigung müssen die erforderlichen Unterlagen bis zum 01. Oktober 1957 vorliegen, vieles muss notariell übersetzt und beglaubigt werden. Rechtsanwälte aus New York, Paris, Frankfurt und Wiesbaden arbeiten für die Schwestern. Verlangt werden u.a. Geburts- und Heiratsurkunden, Zeugnisse, Schul-, Ausbildungs-, Wohn- und Einkommensnachweise. Vielfach sind Ämter und Archive im Laufe des Krieges durch Bomben zerstört worden. Bescheinigungen über die Abschiebung der Familienmitglieder nach Polen, Belege des Zeitpunkts ihrer Freiheitsberaubung und ihres Todeszeitpunkts, aber auch Erbscheine von ihnen sollen erbracht werden. Allein dem Antrag für Abraham Ebe (HHStAW 518, 55556) mit spezifizierten Einzelanträgen - dunkelgelb zum „Schaden an Eigentum“,  hellgelb zum „Schaden an Freiheit“, grün zum „Schaden im beruflichen Fortkommen“ und rosa zum „Schaden an Leben“ - sind 14 Anlagen beigefügt. 

     

Die Antragstellung ist für die Schwestern kaum zu bewältigen und emotional sehr belastend. Zunächst übernimmt Esther mit Einwilligung der Schwestern die Antragstellung für alle Angehörigen. Der Antrag datiert vom 08. Juli 1957. Parallel dazu stellen Esther und Regina  eigene Anträge auf  Entschädigung für das von ihnen erlittene Leid; Regina auch für Henry. Die Auseinandersetzungen mit den deutschen Behörden werden sich über Jahre hinziehen. Einerseits werden die Schwestern ermahnt, erforderliche Dokumente schneller zu besorgen, andererseits liegen behördliche Fehler und Verschleppungen vor. Die Nachfragen der Behörde beziehen sich auf Eltern und Geschwister, es werden Zeugnisse der "Verschollenen" oder der "vermutlich in der Deportation Verstorbenen" verlangt und Zeugenaussagen früherer Lehrkräfte. In einem Amtsschreiben vom 04.09.1959 heißt es: „Ich bitte ferner darauf zu achten, dass in der Erbscheinverhandlung angegeben und eidesstattlich versichert wird, ob die beiden deportierten Geschwister verheiratet waren und Kinder hatten.“ Esther schickt am 24.09.1959 die Geburtsurkunde von Rosa Ebe – ausgestellt am 26.11.1958 vom Standesamt Offenbach a. M. - und die von Leibu (Leo) Ebe - ausgestellt am 26.11.1958 vom Standesamt Hannover -, sowie eine "notariell und konsularisch beglaubigte eidesstattliche Versicherung, dass (...) beide Geschwister unverheiratet waren."

    

Viele Einzelbestimmungen der Behörden machen die Antragstellung kompliziert. Nach den Bescheiden zu Abraham und Selda Ebe gegen Ende 1961 merken die Schwestern, dass der von ihnen gestellte Antrag nur für die Eltern bearbeitet wurde nicht jedoch für die Geschwister. Sie fordern eine Wiedereinsetzung des Antrags für Rosa und Leo. Die Begründung der Ablehnung der Entschädigungsbehörde vom 15.03.63 lautet, sie hätten gesonderte Anträge für sie stellen müssen. Es heißt zu Leo Ebe: "Der Antrag auf Gewährung von Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz ist nicht rechtzeitig – nämlich bis zum 01.04.1958 – eingegangen. Die bloße Erwähnung des Schicksals des Erblassers (...) ist kein rechtswirksamer Antrag auf Gewährung von Entschädigungsleistungen." Es  heisst dort weiterhin: "Nachdem die Antragstellerin bereits 1957 die Anträge auf Gewährung von Entschädigungsleistungen nach ihren Eltern eingebracht hat, steht fest, dass sie schon vor Ablauf der Antragsfrist mit Entschädigungssachen befasst war. Sie hätte sich daher in jener Zeit bei der Entschädigungsbehörde darüber erkundigen müssen, ob sie für ihren Bruder nicht einen gesonderten Entschädigungsantrag einbringen muss. Dass eine solche Anfrage naheliegt, ergibt sich insbesondere daraus, dass die Antragstellerin für die Eltern zwei getrennt Anträge eingebracht hat."

    

Nachdem sie seit dem 08. Juli 1957 in ständigem Kontakt mit den Behörden waren, ist dieser Bescheid eine große Enttäuschung! Hätte dies nicht früher mitgeteilt werden müssen? 

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