Die Bescheide 


Am 8. Juli 1957  hatten die Schwestern die Anträge auf Entschädigung ihrer deportieren Angehörigen auf „Schaden an Leben, Freiheit, Eigentum, Vermögen und beruflichem und wirtschaftlichem Fortkommen“ gestellt. 


Sehen wir uns die einzelnen Bescheide an. Eine Entschädigung aufgrund des „Schadens an Leben“ für ihre Eltern wird nach einem Schriftverkehr mit über 99 Seiten am 17.11.61 abgelehnt. Esther hatte ihn gestellt, da sie zum Zeitpunkt der Abschiebung der Eltern minderjährig und in der Berufsausbildung war und kein Einkommen hatte. Er wird abgelehnt, da „Anspruch auf Waisenrente (…) erst ab dem Todeszeitpunkt der Verfolgten besteht.“ Zu diesem Zeitpunkt sei sie bereits verheiratet gewesen, heißt es im Schreiben vom 12.09.61 an Esther Clifford.

    

Eine Entschädigungszahlung aufgrund des „Schadens an Freiheit“ wird für Abraham und Selda jeweils in Höhe von DM 6150,-- (inclusive Zinsen) am 28.01. und 29.01.1960 bewilligt. „Ihr Entschädigungszeitraum erstreckt sich (…)  vom 19.02.1940 – dem Tag, an dem das Tragen eines Judensterns verpflichtend ist - bis zum 31.07.1943 – dem Tag, an dem Warschauer Ghetto aufgelöst wurde - somit auf 3 Jahre und 5 volle Monate. Da gemäß § 45 BEG  für jeden vollen Monat der Freiheitsbeschränkung und Freiheitsentziehung DM 150,-- zu zahlen sind, beträgt die an die Erbengemeinschaft zu zahlende Entschädigung DM 6.150,--.“

     

Die Forderungen der Schwestern auf Entschädigung für „Eigentumsschaden“ von Abraham und Selda Ebe werden am 27.09.61 abgelehnt (Schriftverkehr 95 Blatt). Es gibt keinerlei Entschädigung für ihre eigene zurückgelassene Wohnungseinrichtung, die dort untergestellten Möbel der Familie von Willy Rosenthal im Wert von circa RM 7000,-- und für das Werkzeug des Vaters, dessen Wert die Schwestern mit RM 820,-- angegeben hatten. 


Die Forderungen auf Entschädigung  für “Vermögensschaden“ („good will“) wird ebenfalls nach einem Schriftverkehr von 86 Blatt am 13.6.61 abgelehnt. Die Begründung: „Sie begehren Entschädigung wegen Schadens an Vermögen, der ihrem Vater durch Verlust des Geschäftswertes (good will) infolge der durch NS-Maßnahmen erzwungenen Liquidierung seines Geschäfts entstanden sei….“ Eine „Entschädigung kann nur dann zuerkannt werden, wenn das Unternehmen über die Substanzwerte hinaus einen wirtschaftlichen Wert hatte, der durch Verfolgungsmaßnahmen verloren gegangen ist.“


Ein „Schaden an beruflichem Fortkommen von DM 5.709,-- (inklusive Zinsen) wird Abraham Ebe am 12.05.61 bewilligt, mit der Begründung: „Der Entschädigungszeitraum beginnt mit der 50%- igen Berufsbeschränkung am 01.01.1936 und der Berufsverdrängung am 01.06.1937, da anzunehmen ist, dass der Verfolgte in den Wochen vor der formellen Betriebseinstellung am 23.06.1937 so gut wie nichts mehr verdient hat. Der Entschädigungszeitraum endet am 31.07.1943, dem wahrscheinlichen Todestag der Verfolgten. „Dabei ist die Entschädigungsbehörde ebenso wie bei der Entscheidung über den Freiheitsschaden davon ausgegangen, dass das Ghetto von Warschau nur bis zu seiner Liquidation im Juni 1943 bestanden hat und dass der Verfolgte die „Vernichtungsaktion“ nicht überlebt haben kann.“ Zur Antragstellung mussten zahlreiche Belege erbracht werden; u.a. wird die eidesstattliche Erklärung des ehemaligen Frankfurter Lederwarenhändlers Ernest I. Erbesfeld beigefügt, der seinerzeit von Abraham Ebe Waren bezog und sich hatte vor der Vernichtung  retten können.

    

Sie erfahren, dass für die Geschwister Rosa und Leo eigene Entschädigungsanträge hätten gestellt werden müssen. Nun versuchen sie es mit Anträgen zur Wiedereinsetzung. Am 11.03.1963 werden jedoch alle Entschädigungsansprüche und Anträge zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für beide Geschwister abgelehnt. Als Begründung heißt es u.a., da sie „nicht rechtzeitig bis zum 01.04.1958“ eingegangen seien, aber auch, da im Antrag um Wiedereinsetzung keine „bestimmten oder bestimmbaren Entschädigungsleistungen für den Erblasser verlangt werden.“ Dies sei für die Gültigkeit eines Antrages erforderlich.

    

Es hatte sich inzwischen gezeigt, dass die Antragsfrist zum 01. Oktober 1957 unrealistisch war.  Das Gesetz musste nach und nach modifiziert werden. Von der ersten Modifizierung des Gesetzes 1965 können die Schwestern profitieren, um die Anträge für Rosa und Leo erneut zu stellen. Diesmal ist es Regina, die die Anträge mit Einwilligung der Schwestern einreicht. Doch die Anträge werden letztlich in allen Instanzen abgelehnt. In mehrfachen Anträgen und negativen Bescheiden bis 1971 geht es um die Klärung der Frage, ob Rosa und Leo - wären sie nicht ausgewiesen worden und in der Deportation umgekommen - eine höhere Ausbildung hätten durchlaufen können. Wie alle Geschwister gingen sie bis 1933 in das Philanthropin. Beide waren künstlerisch begabt und hätten studieren sollen. Für Leo wird am 20. Mai 1970 ein Vergleich angeboten, am selben Tag wird der Antrag zu Rosa endgültig abgelehnt. Nach dem geschlossenen Vergleich vom 13.10.1970 bekommen die Schwestern für ihren toten Bruder Leo einmalig DM 5100,-- (inklusive Zinsen), für ihre tote Schwester Rosa gar  nichts. Es heißt in einem allerletzten Bescheid vom 24. März 1971: Rosa „...hat nach Überzeugung der Kammer das Lyzeum nicht aus Verfolgungsgründen verlassen, sondern wegen anderer Umstände, sei es aus schulischen Gründen - schlechte Leistungen, Examensangst -  oder aus familiären Gründen – auch die Geschwister haben nur die mittlere Reife erworben . Es bedarf keiner Feststellung, welcher von Verfolgungsmaßnahmen unabhängige Grund für den Abgang der Erblasserin von der Schule maßgebend war. Da die Klägerinnen unterlegen sind, haben sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst zu tragen.“

       

Die jahrelange Auseinandersetzung mit den Behörden strapaziert die Schwestern. Ein Attest von Dr. Jérȏme Kamlet, M.D, New York vom 27.06.1966 bescheinigt Esther: „Infolge von Verfolgungen ihrer Familie hat Mrs. Esther Clifford 1946 einen vollständigen geistigen Zusammenbruch erlitten, der es erforderlich machte, dass sie zwei Jahre in einer Institution behandelt wurde. Ihr Befinden hat sich gebessert, sie hat jedoch weiter unter schwerer Angst und Nervosität mit emotionalen und psychosomatischen Anzeichen gelitten. (…) Auf dieser Basis würde ich sie als 50 % erwerbsunfähig bezeichnen. Es besteht kein Zweifel, dass Mrs. Clifford‘s jetziger Zustand zum größten Teil direkt mit der unmenschlichen Behandlung von Seiten der seinerzeitigen Nazi-Regierung von Deutschland während der erwähnten Zeitspanne zusammenhängt.“

    

Ein amtsärztliches Gutachten stellt bei Regina eine Fehlsteuerung des Nervensystems fest, man spricht von neuropsychiatrischen Zügen. Ein ärztliches Gutachten des Nervenarztes Dr. Minkowski/Paris vom 12.03.1966 beschreibt sie als "müde, leicht erregbar, immer nervös, unter Druck, traurig, kann nicht schlafen“. Zeitlebens hat sie Beschwerden: Angstzustände, Herzklopfen, nervöse Störungen mit Depressionen.       

      

Für ihr „Leben in der Illegalität“ wird Regina Rosenthal am 23.02.1959  eine Entschädigung in Höhe von DM 3.150,--  gewährt: Berechnet wird der Zeitraum vom 10.11.1942 bis Mitte August 1944  - 21 Monate und 5 Tage. Nach jahrelangen Verhandlungen wird Regina aufgrund des „Schadens an Gesundheit“ zusätzlich eine einmalige Entschädigung für Heilkosten und Medikamente erhalten. Der letzte Brief der Behörde an Regina Rosenthal vom 25.03.2002 zeigt, dass sie zumindest – bis zu ihrem Tode am 11.11.2002 – eine kleine Rente erhält. 

©2021 Gestaltung und Webdesign Henrieke Strecker