Die „Polenaktion“


Am 29.10.1938 werden im Rahmen der „Polenaktion“ die fünf noch in Frankfurt lebenden Mitglieder der Familie Ebe - Abraham und Selda, die Kinder Rosa, Leo und die jüngste Tochter Esther - morgens um fünf Uhr durch die SS abgeholt. Es klopfte: „Anziehen, mitkommen“, erzählt sie. Sie werden auf einem Lastwagen abtransportiert. Zunächst werden sie in eine Zelle gesperrt, in dem bereits viele weitere polnische Juden sind. Abends werden sie zum Bahnhof gebracht und in einen Zug verfrachtet. Im Zug werden sie mit weiteren Juden und Jüdinnen bis kurz vor die polnische Grenze nach Zbąszyń /Bentschen gebracht. Zum Zeitpunkt der Deportation sind Abraham und Selda Ebe circa 54 Jahre, Rosa 24, Leo 20 und Esther 18 Jahre alt.


In Sechserreihen werden circa 1500 polnische Juden unter den Befehlen der SS zur polnischen Grenze getrieben. Alle müssen ihre Identitätspapiere oder Pässe bereit halten. Die Männer hatten zusätzlich Israel, die Frauen Sara vor ihrem Nachnamen eingetragen. An der Grenze wird Esther von dem Rest der Familie getrennt. Ihr Vater und ihre Mutter intervenieren und wollen zeigen, dass Esther mit auf dem Papier ihres Vaters steht. Doch niemandem interessiert das. Sie muss sich mit erhobenen Armen mit dem Gesicht zur Wand stellen und hört nur noch die sich entfernenden Schritte ihrer Angehörigen, die wegmaschieren müssen. Mit circa 50 weiteren polnischen Juden wird sie etwas später in eine ehemalige Synagoge gebracht, die zum Gefängnis umgewandelt wurde. Deutsche Juden aus der Umgebung kommen und versorgen sie mit Nahrung. Nach einigen Tagen helfen ihr einige jüdische Jugendliche. Sie zeigen ihr, dass das Tor offen steht. Sie kann mit ihrer Hilfe zum Bahnhof entkommen und kehrt mit dem Zug nach Frankfurt zurück. - Erst später erfährt sie, dass bald darauf auch die anderen polnischen Juden aus der Synagoge nach Frankfurt zurückgeschickt werden. Polen hatte die Grenze geschlossen und keine weiteren polnischen Juden mehr hineingelassen.


Die Situation erklärt Esther im Antrag auf Entschädigung für ihren in der Deportation verschollenen Vater: „Auf Grund eines Ausweisungsbefehls des Polizeipräsidiums Frankfurt wurde mein Vater, meine Mutter, meine Schwester Rosa, mein Bruder Leo und ich selbst am 29.10.1938 nach Polen abgeschoben. Da ich wegen Minderjährigkeit noch keinen Pass besaß, wurde ich nicht über die Grenze gelassen und wieder nach Frankfurt zurückgeschickt.“


Esther sieht nach ihrer Rückkehr nach Frankfurt, dass die Wohnung versiegelt ist. Ein christlicher deutscher Nachbar hilft ihr in die Wohnung zu kommen. Sie gibt ihm einige Gegenstände aus der Wohnung und bekommt dafür Geld von ihm. Esther sieht dort noch die Teetassen stehen, in denen ihnen die Mutter vor der Deportation Tee einschenken wollte. Sie macht kein Licht an, versteckt sich voller Angst in der Wohnung. Esther begreift, dass sie nun auf sich allein gestellt ist. Alle Entscheidungen hat die 18jährige jetzt selbst zu treffen.


Ende 1937 hatte sie eine Ausbildung als Hutmacherin im Geschäft von Frau Friedmann auf der Zeil begonnen. Sie sucht sie auf. Frau Friedmann umarmt sie herzlich. Sie hat sich schon Sorgen um Esther gemacht, da diese nicht mehr zu Arbeit gekommen war. Sie findet bei ihr für einige Tage Unterschlupf. Sie kehrt dann aber wieder in die Wohnung zurück.


Ihre ältere Schwester Regina ist zu dieser Zeit 30 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie Rosenthal in Frankreich. Mary, ihre zweitälteste Schwester, circa 27 Jahre alt, lebt seit 1935 mit ihrem Mann Arthur Halberstadt in München. - Voller Angst übernachtet Esther in Frankfurt dann manchmal bei Bekannten, manchmal in der Wohnung.


In Frankfurt erlebt Esther einige Tage später in der Nacht vom 09. auf den
10. November 1938 die Pogromnacht. Durch den Lärm der zersplitternden Fenster und dem Gegröle auf den Straßen wacht sie auf. Überall fliegen Steine in die Fenster jüdischer Wohnungen und Häuser. Sie läuft auf die Straße, sieht wie Juden auf Lastwagen abtransportiert werden. Sie sieht, dass die Synagoge in der Friedberger Anlage („die Breuer Synagoge“) in Flammen steht. Sie läuft durch die Kaiserstraße direkt zum Bahnhof. Überall die gleichen Bilder. Auch hier sieht sie, wie jüdische Ladenbesitzer zusammengetrieben und auf Lastwagen abtransportiert werden.


Esther, 18 Jahre alt, rennt zum Ende der Kaiserstraße direkt zum Bahnhof und flieht in ihrer Not zur Schwester Mary nach München. Doch auch in München empfängt sie die gleiche Zerstörung. Auch hier hatte man gewütet. Eine Woche bleibt sie bei ihrer Schwester. Mary und ihrem Mann ist es gelungen, zwei Überfahrten nach Shanghai zu erstehen. Sie sind bereits dabei, die Wohnung aufzulösen und zu packen. Für Esther können sie keine Passage mehr bekommen. Da Esther sich in München nicht auskennt, will sie nicht hier bleiben und fährt nach Frankfurt zurück. Manchmal übernachtet sie dort bei ihrer Freundin Hertha Hahn. - Auch der Familie Hahn wurden am 9. November die Scheiben eingeschlagen. - Manchmal ist sie in der Wohnung der Eltern.


„Bei der plötzlichen Abschiebung nach Polen am 29.10.1938 wurde meinen Eltern keine Zeit gelassen, ihre Wohnungseinrichtung, bestehend aus vier Zimmern und einer Handwerksstube, zu liquidieren, sondern sie mussten sie im Stich lassen. Als ich dann im November 1938 allein wieder nach Frankfurt zurückkehrte, fand ich die Wohnungseinrichtung noch vor und ging daran sie aufzulösen. Ich verpackte Gebrauchsgegenstände in fünf Kisten (worüber Abschriften der seinerzeit aufgestellten Verzeichnisse hier beigefügt sind) und stellte sie beim Spediteur Anton C. Kiel, Frankfurt am Main, Gartenstr.15 unter, in der Absicht, sie später meinen Eltern nachzuschicken.


Hingegen wollte ich die Möbel und Einrichtungsgegenstände unserer Wohnung an Ort und Stelle verkaufen, da ich Geld zum Leben brauchte. Als jedoch die Behörden von meinem Vorhaben erfuhren, riefen sie mich zu sich und zwangen mich, eine Erklärung zu unterschreiben, dass ich die Wohnungseinrichtung freiwillig im November 1938 abtrete.“


Anfang 1939 gelingt ihr dann mit dem bereits vorliegenden Visum ihrer Freundin Hertha Hahn, das auf sie umgeschrieben wurde, die Ausreise nach England. - Die letzte Adresse Esthers in Frankfurt ist die Telemannstraße 20; wahrscheinlich die Adresse der Familie Hahn .- Die Mutter von Hertha wollte ihre Tochter nicht alleine ausreisen lassen, sondern lieber auf die Einladung der Verwandten – und damit für ein Familienvisum - aus London warten.


Von London muss Esther sofort nach Brighton reisen, wo sie als Dienstmädchen in einer englischen Familie arbeitet. Erst nach acht Monaten kann sie in London die Verwandten der Familie Hahn aufsuchen, um diese zu bitten, ihnen ein Familienvisum zu schicken. Doch zu spät. Dass ihre Freundin, der sie das Leben verdankt, mit ihrer Familie bereits 1941 deportiert und später umgebracht wurde, erfährt Esther, so erzählt sie im Interview mit der USC Shoah Foundation, später.


Aus den Deportationslisten geht hervor, dass mit der Familie Ebe viele Verwandte von der „Polenaktion“ betroffen sind, darunter die Verwandten mit den Nachnamen Ebe in Hannover.2 Ebenso wird die am 04.01.1920 geborene verwandte Hanni Ebe, deren Aufenthaltsort während des Krieges das in Bayern befindliche Konzentrationslager Flossenbürg genannt wird, bis heute als verschollen genannt.


In London lernt Esther Rudi Kleczewski kennen, der seit 1944 in der britischen Armee dient. Ursprünglich kommt Rudi aus Berlin; auch er ist jüdisch. Auch er wird später erfahren, dass seine Verwandten deportiert und umgebracht wurden.

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