„Wir sind nicht da, 

um zu verschwinden“  


Henry Rosenthal und die Familie Ebe


Als ich am 17. Mai 2018 gerade auf dem Weg in die Eckenheimer Landstraße 84 in Frankfurt die Haustüre schließen will, klingelt mein Telefon: „Hier ist Henry Rosenthal aus Paris. Wir haben das Flugzeug verpasst, aber wir kommen mit dem nächsten.“ Es ist das erste Mal, dass Henry mich anruft. Meine Nummer hat er von seiner Tochter Olivia Rosenthal, einer französischen Schriftstellerin, die ich 2017 während der Frankfurter Buchmesse („Gastland Frankreich“) kennengelernt habe. Wir unterhielten uns damals auf Englisch. Dass ihr Vater fließend Deutsch spricht, überrascht mich. - Ich verspreche Henry, dass wir mit der Stolpersteine-Legung auf ihn und seine Frau Monique warten.

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An diesem Donnerstag sollen um 16.15 Uhr vor der „Weinstube im Nordend“ in Frankfurt „Stolpersteine“ für Abraham und Selda Ebe und ihre Kinder Rosa, Leo und Esther verlegt werden. Die Familie Ebe wohnte bis 1931/32 im Haus und wurde am 29. Oktober 1938 im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“ aus Frankfurt nach Polen abgeschoben. 17.000 Juden mit polnischem Pass wurden in dieser „Nacht- und Nebelaktion“ aus dem „Reich“ ausgewiesen.

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Dass Henry Rosenthal, Enkel von Abraham und Selda Ebe, Sohn der ältesten Tochter Regina, der Großmutter von Olivia, kommen würde, hatte Olivia Rosenthal mir geschrieben. Ihr Vater, der als Hermann geborene Henry, kam am 29.10.1930 in Frankfurt zur Welt. Als seine Eltern nach der Machtergreifung Hitlers im Mai 1933 Deutschland fluchtartig Richtung Frankreich verlassen, ist er zweieinhalb Jahre alt. 

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Nur durch Zufall erfahre ich von seinen Großeltern, die in der Eckenheimer Landstraße 84 als Inhaber von „Lederwaren A. Ebe“ lebten und arbeiteten. Ein Gast der Weinstube, Lara, die im Hessischen Rundfunk arbeitet, hatte auf einem Foto, das die Schriftstellerin Olivia Rosenthal aufgrund einer Recherche zu ihren Büchern dorthin schickte, die Eingangstür zur Weinstube erkannt. Die Eingangstüre sieht noch aus wie früher. Selbst die Einschussstellen aus dem Ersten Weltkrieg sind erhalten. 

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Auf dem circa 1923 aufgenommenen Foto sehen wir acht Personen: rechts die Eltern Selda und Abraham Ebe und die jüngste Tochter Esther vor der Eingangstür, vor dem Fenster  in der oberen Reihe links eine Verwandte, daneben die älteste Tochter Regina, davor links Rosa, in der Mitte Leo und rechts Mary. Als der HR-Redakteur Simon Broll das Interview der USC Shoah Foundation mit Esther Clifford, geborene Ebe, dem jüngsten Kind, erwähnt, will ich mehr über unsere „Vormieter“ wissen. Nachdem ich das Interview hörte, schaute  ich die Akten über die Anträge auf Entschädigung, die die Schwestern für die verschollenen Mitglieder der Familie Ebe (HHStAW 518, 55556-9) gestellt hatten und die sich im Hessischen Staatsarchiv in Wiesbaden befinden, durch. Den Antrag, den  Regina Rosenthal für eigenes erlittenes Unrecht (HHStAW 518, 89033) gestellt hatte, bezog ich ein. Meine erste Recherche über hauptsächlich biographische Daten der Familie Ebe schickte ich an Olivia, die sie an ihren Vater Henry und an den in New York lebenden Sohn von Esther Allen Clifford weiterleitete. Mit ihrem Einverständnis stellten wir das Foto ins Fenster der Weinstube.  


Ein Freund, der Journalist Kamil Taylan,  stellte diese erste Recherche mit dem Namen „Das Schicksal der Familie Ebe“ in seinen blog ins Internet. Dann beginne ich anhand der Akten eingehender den Verlauf der Korrespondenz der überlebenden Schwestern mit den Behörden um eine "Entschädigung" zu untersuchen. - Beide Recherchen sind unter "Das Schicksal der Familie Ebe" und "Die Korrespondenz der überlebenden Schwestern der Familie Ebe und den Entschädigungsbehörden“ angefügt. - Parallel dazu beantragten Doris, Hans und ich – die gemeinsamen Betreiber der Weinstube - die Verlegung von Stolpersteinen für die Familie vor der Weinstube bei Hartmut Schmidt, dem Vorsitzenden der Frankfurter Initiative Stolpersteine, der mich während meiner Recherche hilfreich unterstützte. Normalerweise werden Stolpersteine am letzten freiwillig bewohnten Ort verlegt. Die Ebes lebten in der Eckenheimer 84  jedoch nur bis circa 1931/32. Hartmut Schmidt macht freundlicherweise aufgrund des vorhandenen Fotos eine Ausnahme. - Am 17. Mai 2018  kommen nun der Künstler Gunter Demnig und Hartmut Schmidt, sowie Verwandte, viele Freunde und Nachbarn. Leider können weder Olivia Rosenthal, Professorin für Kreatives Schreiben in Paris, noch ihr Großcousin Allen Clifford aus New York, zu diesem Termin kommen. 


Da an den drei Tagen im Mai 2018 insgesamt 98 Stolpersteine an 42 Orten in Frankfurt verlegt werden, existiert ein strenger Zeitplan. Als Henry und Monique Rosenthal wohlbehalten vom Flughafen vorfahren, sind die Steine für Familie Ebe vor der Weinstube bereits verlegt. Zahlreiche Freunde warten jedoch auf ihre Begrüßung.


Von Anfang an ist unsere Beziehung herzlich. Zusammen mit den Rosenthals erreichen wir rechtzeitig die Willkommens-Veranstaltung im Emma und Henry Budge Heim im Frankfurter Stadtteil Seckbach. Die circa 180 Personen, die hier anlässlich der Stolpersteine-Legung versammelt sind, werden mit Ansprachen, Speisen, Getränken und Musik empfangen. 


Wir sitzen mit dem 87-jährigen Henry und seiner Frau Monique zusammen. Henry und Monique haben sich in Paris kennengelernt. Er arbeitete als Ingenieur und sie als Spanischlehrerin. Monique hat sephardische Vorfahren, die im 15. Jahrhundert aus Spanien ins Osmanische Reich geflüchtet sind. Nebenbei erwähnt Henry, dass sie zwei Töchter gehabt haben: Olivias Schwester habe sich das Leben genommen.  Ihre Großmutter Regina habe nicht gerne über Frankfurt gesprochen, erzählte mir Olivia. In ihrem Buch  über Alois Alzheimer mit dem Titel "Wir sind nicht da, um zu verschwinden" (2017) schreibt sie auf Seite 127: "Ich werde nicht nach Frankfurt auf Spurensuche nach meinem Großvater gehen."


Wir verschieben belastende Gespräche auf die nächsten Tage. Henry wird sich für die Aussagen seiner Mutter Regina und ihrer Schwester Esther interessieren, die ich in Wiesbaden im Hessischen Hauptstaatsarchiv in den Akten HHStAW 518, 55556-9 gelesen habe und die sich auf die Antragstellung für die verschollenen Familienmitglieder der Familie Ebe – Abraham, Selda, Rosa und Leo – beziehen. Auch in die Akte von Regina Rosenthal (HHStAW 518, 89033) mit dem Antrag auf eigene Entschädigung nehme ich Einblick, Als Kind ist er mit all diesen schrecklichen Erlebnissen aufgewachsen. - Er wiederum hat mir Fotos seiner Verwandten mitgebracht. 

Eckenheimer Landstrasse 84 heute

Das Foto der Familie Ebe im Schaufenster der Weinstube, 

Frankfurt am Main, Eckenheimer Landstraße 84


1921 - 1931
Wohnung und Lederwaren-Geschäft der Familie Abraham und Selda Ebe


Ab 1932

Umzug der Ebe in die Lenaustraße 93


Ab 1936

Familie Ebe wohnt in der Hanauer Landstrasse 27


29.10.1938

Abraham und Selda Ebe und ihre Kinder Rosa, Leo und Esther werden im Rahmen der „Polenaktion“ bis zur Grenze nach Zbąszyń/Bentschen verschleppt. Esther Ebe  wird – da sie keinen polnischen Pass 

hat - ausgesondert; sie kehrt nach Frankfurt zurück. Anfang 1939 rettet sie sich nach England. 


19.02.1940

Einweisung der Familie ins Warschauer Ghetto/Verordnung des Judensterns


13.08.1941

Letztes Lebenszeichen der Familie: eine Karte aus dem Warschauer Ghetto.


31.07.1943

Abraham, Selda, Rosa und Leo Ebe gelten amtlich als verschollen. Mit Auflösung des Ghettos wurden sie wohl ins                             Vernichtungslager Treblinka transportiert und dort umgebracht 

(Foto: aufgenommen in 1923/24)

Verlegung der Stolpersteine. Hartmut Schmidt /Initiative Stolpersteine und der Künstler Gunther Demnig

Henry und Monique Rosenthal beim Feiern im Emma & Henry Budge Heim

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