Das Schicksal der Familie Ebe


Über die Existenz der Familie Ebe erfahre ich durch das Foto, dass die französische Schriftstellerin Olivia Rosenthal dem Journalisten Simon Broll vom Hessischen Rundfunk überlässt. Auf dem Foto stehen acht Personen vor einem Laden mit der Aufschrift „Inhaber A. Ebe Lederwaren“. Es sind, so finde ich später heraus, Vater und Mutter, ihre fünf Kinder und die Verwandte Rosa aus München.


Anlaß für das Gespräch zwischen Simon Broll und Olivia Rosenthal ist, daß die Schriftstellerin, deren Bücher in Frankreich prämiert sind, nach Frankfurt kommen soll. Zwei ihrer Bücher sind für die Buchmesse 2017 mit dem Gastland „Frankreich“ ins Deutsche übersetzt worden. Simon Broll vom HR/FS Kultur und Wissenschaft, will ihr Buch (2017) „Wir sind nicht da, um zu verschwinden“für Arte vorstellen. Darin schreibt Olivia Rosenthal über die Krankheit Alzheimer, über Erinnerungslücken und die eigene, nicht erzählte Familiengeschichte.


Ein zweites Buch (2017), das ebenfalls zur Buchmesse in Deutsch übersetzt wurde, heißt „Überlebensmechanismen in einer feindlichen Umgebung“; es thematisiert Nahtoderfahrungen. Um über solche Themen schreiben zu können, hat sie teilnehmend beobachtet.


Beim ersten Kontakt mit dem HR schickt Olivia dieses Foto ihrer Urgroßeltern Ebe mit. Eine Mitarbeiterin des HR erkennt den „Lederwarenladen Ebe“ auf dem Foto als unsere Weinstube. Wir werden angerufen und gefragt, ob wir bereit sind, Olivia Rosenthal bei ihrem Besuch in Frankfurt unser Lokal zu zeigen.


Bei der Ortsbesichtigung erwähnt Simon Broll das Interview, das Olivias Großtante Esther Clifford, geb. Ebe, am 03.11.1996 in Cranbury/New Jersey/USA Irene Dansky von der USC Shoah Foundation gab. Frau Clifford berichtet in diesem Interview (siehe https://www.youtube.com/watch?v=aDlykHcHp0A) ergreifend über das Leben ihrer Familie, die einst in „unseren“ Räumen lebten.


Für den Filmbeitrag wird Olivia Rosenthal ganz unvorbereitet in die Weinstube geführt und das obwohl sie im Buch (2017: 127) schreibt: „Ich werde nicht nach Frankfurt auf Spurensuche nach meinem Urgroßvater gehen.“ Ihre Großmutter Regina Ebe, verheiratete Rosenthal, deren Familie sich durch Flucht nach Frankreich im Jahre 1933 hat retten können, habe nicht, so erzählt sie mir bei unserem Treffen 2017 in Frankfurt, gerne über die Zeit in Frankfurt gesprochen.


Das Foto, der Bericht ihrer Urgroßtante Esther und die Begegnung mit Olivia, bilden den Anlass, mich auf die Suche nach dem Leben unserer jüdischen Vormieter zu begeben. Dazu nehme ich Einsicht in die umfangreichen Akten im Hessischen Staatsarchiv in Wiesbaden (HHStAW 518, 55556-9), die aufgrund der durch die überlebenden Schwestern gestellten Anträge auf Entschädigung für ihre verschollenen Angehörigen angelegt wurden. Auch einiges, was Esther Clifford in ihrem Interview mit der USC Shoah Foundation erzählt hat, flechte ich mit ein. In dem Interview mit der USC Shoah Foundation zeigt Esther mehrere Fotos ihrer Angehörigen, darunter auch das Foto vor unserer Weinstube.


Abraham Ebe wird am 10.04.1884 in Warschau in Polen geboren. Sein Vater ist Leibu Ebe, die Mutter Rifka Ebe. Bis zum 16. Lebensjahr geht Abraham Ebe in die „Jeschiwa“ (jüd. Lehranstalt), dann macht er eine dreijährige Ausbildung zum Sattler und Portofeuilleur und arbeitet anschließend als Geselle in Warschau.


Im Jahre 1907 heiratet Abraham Ebe Selda, geb. Eyba (in den Dokumenten manchmal auch Eiba genannt), geboren am 02.04.1884 in Warschau in Polen. Ihr Vater ist Hirsch Eiba (in den Dokumenten auch Eyba geschrieben, ihre Mutter heißt Esther Perel Eiba. Esther Ebe wird also nach ihrer Großmutter mütterlicherseits benannt.


Am 13.12.1908 wird in Warschau die erste Tochter des Ehepaars Regina (Rywka) geboren, die Großmutter von Olivia. Am 15.04.1911 kommt ebenfalls in Warschau die zweite Tochter Mary (Sura-Mirjan) zur Welt.


Etwa 1911 zieht die Familie wegen der Pogrome in Polen und der besseren Schulausbildung für ihre Kinder nach Deutschland, zuerst nach Offenbach. Dort wird die dritte Tochter Rosa am 10.08.1914 geboren. Bald übersiedeltdie Familie nach Hannover, wo am 07.03.1918 der Sohn Leo (Leibu), benannt nach seinem Großvater väterlicherseits, geboren wird. - In Hannover lebten damals Verwandte, ebenfalls mit dem Nachnamen Ebe; vielleicht ein Grund hierher zu ziehen.


Vom August 1914 bis 1918 wird Abraham Ebe als Zivilgefangener und „feindlicher Ausländer“ in Holzminden interniert, erzählt Esther (HHStAW 518,55556. S.13). Holzminden war von 1914 bis 1918 ein Internierungslager in Niedersachsen und hatte bis zu 10.000 Gefangene. - Von 1918 bis 1921 lebt die Familie in München. Hier wird am 05.12.1920 die Jüngste, Esther, geboren.


Die häufigen Umzüge der Familie zeigen, welche Schwierigkeiten für polnische Juden bestehen, sich in Deutschland anzusiedeln. Auch in München können sie nicht lange bleiben. Danach erfolgt, so Regina, ein vergeblicher Versuch in Leipzig aufgenommen zu werden.


1921 zieht die Familie nach Frankfurt in die Eckenheimer Landstraße 84. Hier richtet der Vater unten sein Lederwaren-Geschäft, verbunden mit der Werkstatt für die Herstellung und Reparatur, ein. Stolz wird dies auf dem Foto dokumentiert. In den hinteren Räumen lebt die Familie. „Wir hatten eine kleine Wohnung hinter dem Laden mit einer Küche und zwei Zimmern, in denen die Eltern und wir fünf Kinder schliefen. Sie waren nicht wohlhabend, aber die wirtschaftliche Lage ist stabil. Esther schildert das Leben der Familie als bescheiden, aber glücklich, insgesamt mit vielen Besuchen von Verwandten und Bekannten als sehr rege. Auch Weihnachten feierte man und auch nicht jüdische Bekannte kamen zu Chanukka, dem jüdischen Lichterfest.


Im Frankfurter Nordend leben sie in einem Viertel, in dem jüdische Mitbewohner ihre eigene Infrastruktur einbringen können. Die Synagogen in der Friedberger Anlage und am Börneplatz sind zu Fuß erreichbar. Hier befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Laden, nur einige Querstraßen zur Stadtmitte hin, in der Hebelstraße 14-16, das Philanthropin, eine jüdische Schule. Das Philanthropin war eine der Schulen der ehemaligen israelitischen Gemeinde. Es bestand seit 1804 bis zur Schließung durch die Nationalsozialisten 1942.


Esther erzählt, dass ihre Eltern sowohl in ein kleineres Gebetshaus für polnische Juden in der Nähe gingen, wie auch in die Synagoge am Börneplatz, die hauptsächlich von deutschen Juden besucht wurde. Dies sieht man in der in deutsch gehaltenen Einladung zu der Bar Mitzvah-Feier von Leo Ebe, die am 14.3.1931 in der Synagoge am Börneplatz in Frankfurt am Main stattfand. - Sie schildert ihre Eltern als orthodox, aber nicht chassidisch. Der Vater ging Freitag abends und Samstag, aber oft auch noch mehrmals in der Woche in die Synagoge.


Die Eltern sprechen zunächst noch Jiddisch, lernen durch die Kinder aber schnell deutsch, erzählt Esther. Zu ihren polnischen Namen erhalten sie deutsche. Selda Ebe heißt auch Sophie, Rywka auch Regina, Sura-Mirjan auch Mary, Rosa auch Rosie, Leibu auch Leo und Esther auch Berta.


Alle Kinder der Familie sind künstlerisch begabt. Leo ist Solist in der Synagoge am Börneplatz. Alle Kinder gehen ins Philanthropin. Die älteste Tochter Regina, die im Alter von zwei Jahren nach Deutschland kam und von 1914 bis 1920 die Volksschule in München besuchte, geht bis zur Erreichung der Reife für die Obersekunda im Oktober 1926 dorthin. Danach arbeitete sie in der Firma Rheine Co. am Blittersdorf Platz 28 in Frankfurt – heute François-Mitterand-Platz - als Sekretärin und Übersetzerin für Französisch und Englisch. Ihr Gehalt betrug damals 200,-- RM. - Mary, die zweitälteste Tochter, geb. am 15.04.1911 in Warschau, in der Familie Mariechen genannt, geht nach dem Besuch des Philanthropins in Frankfurt vier Jahre lang in die Hochschule für Kunstgewerbe in Offenbach. - Rosa, die drittälteste Tochter, wurde in der Klenze-Frauen-Schule in München eingeschult. Auch sie besucht das Philanthropin. Zeugnisse aus den Jahren 1923/24, 1924/1925, 1925/26 vom Klassenlehrer B. Schleifer liegen vor. Sie zeigen, dass sie eine exzellente Schülerin war. - Esther ging ab 1926 bis 1933 ins Philanthropin. Sie erzählt, dass die Kinder der Ebe hier gerne gesehen wurden, da die älteste, Regina, eine sehr gute Schülerin gewesen sei, die mehrmals eine Klasse übersprungen habe. - Rosa, Leo und Esther sollen im Philanthropin ihr Abitur machen. Leo sollte eventuell Medizin studieren, vielleicht aber auch Kantor werden.


Die beiden älteren Töchter gehen bald ihren eigenen Weg. Regina heiratet in Frankfurt Willy (Chil) Rosenthal, geb. 10.08.1905 in Balutach, Bezirk Lodz bei Warschau, zunächst am 03.12.1929 amtlich, dann am 25.12.1929 vor dem Gemeinderabbiner. Beide sind Angehörige der israelitischen Religion. Er ist von Beruf Kaufmann und besitzt die Staatsangehörigkeit in Preußen laut Einbürgerungsurkunde des Reg. Präsidenten zu Hannover vom 27.10.1919. Erst ist die Familie in Offenbach gemeldet, dann in Hannover, dann in Frankfurt.


Willy und Regina sind ab dem 03.12.1929 zunächst in der fünf Zimmer Wohnung im Haus seiner Eltern in der Unterlindau 55 gemeldet. 1930 erfolgt dann Reginas Eintritt in das Geschäft ihres Mannes. - Ab 1932 lebt die Kleinfamilie in der Wittelsbacher Allee 66 in einer eigenen Wohnung. Ihr Kind, Hermann Rosenthal, wird am 29.10.1930 in Frankfurt geboren.


Mary, die zweitälteste Tochter, heiratet am 15. Oktober 1935 Arthur Halberstadt in Frankfurt. Er ist am 29. Januar 1899 in München geboren. Gemeinsam mit ihm zieht sie 1935 nach München.


Bereits 1931/32 zieht die Familie Ebe um in die Lenaustraße 93 im Nordend, nur zwei Straßen entfernt. „Nach etwa 10 Jahren, also gegen 1931, verlegte mein Vater dieses Geschäft nach der Lenaustraße.“

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