Das Foto

Ein Foto, aufgenommen vor einem Fenster und einer Türe in Frankfurt vor fast 100 Jahren, wird 2017 aus Paris nach Frankfurt geschickt. Auf dem Türschild steht „Inhaber A. Ebe Lederwaren“. Davor gruppieren sich acht Personen. Das Foto gelangt zu dem Ort, wo es einst aufgenommen wurde: ein Haus, das noch so aussieht wie vor 100 Jahren. In den Räumlichkeiten, wo damals „Lederwaren“ hergestellt und verkauft wurden, wird seit zwanzig Jahren Wein ausgeschenkt. Ich bin eine, die diese Weinstube mit betreibt, eine, die hier täglich ein- und ausgeht, sich in diesen Räumen aufhält. Mich spricht das Foto sofort an. Ich will mehr wissen. Wer sind diese Personen auf dem Foto? Was ist aus ihnen geworden? 


Ich begebe mich auf die Suche. Ich erfahre von der „Polenaktion“, von Akten in Wiesbaden. Ich fahre ins Hessische Staatsarchiv. Der Zeitraum der Korrespondenz umfaßt mehr als ein Jahrzehnt. Ich vertiefe mich in Akten, fotografiere Seiten, zeichne Zusammenhänge auf. Ich bin promovierte Ethnologin, studierte darüber hinaus Turkologie und Soziologie in Frankfurt und Istanbul. Mein Studium hilft mir. Ich gehe vor, wie ich es gelernt und auf Forschungen in Griechenland, Deutschland, der Türkei, in Kirgistan und Kasachstan angewandt habe. 


Im Raume lese ich die Zeit. Ich stelle mir die Familie Ebe in "unseren" Räumen vor. Ich höre das Bimmeln der Eingangstüre, wenn Kundschaft den Laden betrat. Statt nach Wein riecht es für mich plötzlich nach dem charakteristischen Ledergeruch. Ich sehe Selma Ebe in der Küche Tee kochen.


Um Klarheit zu erlangen, schreibe ich, über „Das Schicksal der Familie Ebe aus Frankfurt“. Durch eidesstattliche Erklärungen werden Namen zu Individuen. Ich schreibe über „Die Korrespondenz der überlebenden Schwestern der Familie Ebe und den Entschädigungsbehörden“. Wir lassen Stolpersteine für fünf Mitglieder der Familie Ebe legen. Marie Rolshoven von der Initiative „Denk mal am Ort“ fordert mich auf, einen Beitrag darüber zu schreiben. Alle Beiträge sind hier versammelt.


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