Die Machtübernahme


Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30.01.1933 werden zügig die rassistischen, antisemitischen Pläne durch die Nationalsozialisten durchgeführt. Unter anderem führte dies zu Maßnahmen wie einem Berufsverbot für alle Juden. Am 07.04.1933 wird dann das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verabschiedet. Die Lebensbedingungen von Juden und Jüdinnen in Deutschland verändern sich dramatisch.


Jakob David Rosenthal, Reginas Schwiegervater, von Beruf Kaufmann, hatte bereits früh beschlossen, dass, wenn Hitler 1933 an die Macht kommen würde, er mit seiner Familie Deutschland verlassen wird. Er handelt prompt. Von einem beruflich bedingten Frankreich-Aufenthalt im Mai 1933 kehrt er mit seiner Frau Judith Maria, geb. Kolsky– beide bisher wohnhaft in Frankfurt, beide mit der Staatsangehörigkeit „Preußen“, seinem Sohn Willy Rosenthal, 28 Jahre alt, und seiner Schwiegertochter Regina, 25 Jahre alt, die Älteste der Ebe Kinder, und seinem Enkelkind, Hermann, zweieinhalb Jahre alt, nicht mehr nach Deutschland zurück. (Laut Interview mit Esther Clifford ist auch sein zweiter Sohn mit der Familie mit ausgewandert.)


„Sie emigrierten erst nach Straßburg, doch durch die Nähe zur deutschen Grenze flüchteten sie bald weiter nach Paris. Sie lebten ab 01.06.1933 in Frankreich unter falschem Namen in Domaize. (Departement Puy-de-Dȏme, Region Auvergne-Rhȏne-Alpes).


Abraham und Selda Ebe sind zunächst zuversichtlich. „Niemand glaubte, dass sich dieser Hitler in einem Volk voller berühmter Ärzte, Denker, Komponisten und Schriftsteller lange halten könne. - Mein Vater nannte ihn einen Clown.“


Die Repressalien gegen Juden nehmen zu. Die Veränderung ab 1933 nimmt Esther bedrohlich wahr.Die Verbrennung der Bücher von jüdischen und oppositionellen Schriftstellern hat sie miterlebt, als sie mit ihrer Mutter auf dem Weg zum Einkaufen war. Sie erinnert die Hetzparolen und Karikaturen in der Zeitung „Der Stürmer“ an den Kiosken. An öffentlichen Plätzen steht: „Die Juden sind unser Unglück.“ Die negative Propaganda belastet sie. Sie erinnert alle Demütigungen, die Juden in diesen Tagen angetan werden. Immer mehr macht sich die „Hitlerjugend“ bemerkbar mit Attacken gegen jüdische Kinder. Für Esther ist alles – auch der Gang zur Schule – mit Angst verbunden. Sie lauern den jüdischen Kindern auf, wenn sie aus dem Philanthropin kommen. Sie werfen Steine, wenn jüdische Kinder vorbeilaufen. - Die Situation in der Familie Ebe ist angespannt. Wenn einer zur verabredeten Zeit nicht nach Hause kommt, ist man auf das Schlimmste eingestellt. Als ihr Bruder Leo einmal abends nicht vom Violine-Unterricht zurück kommt, geht Esther sogleich, ihn zu suchen. Sie findet ihn blutig zusammen geschlagen, auf dem Boden liegend, neben ihm die zerbrochene Violine. - Sie erinnert sich an eine Situation in der Straßenbahn, in der sie von Jugendlichen drangsaliert wird. Keiner der Erwachsenen hilft ihr, dem bedrängten jüdischen Mädchen.


Auf einem Markt erlebt sie, dass, als sie ein lebendes Huhn kaufen will, wo sonst Hühner geschlachtet werden, ihr jemand zuruft: „Eure Köpfe werden bald genauso rollen wie die Köpfe der Hühner.“


Esther sagt, dass ihre Eltern erst 1935 realisierten, wie ernst die Lage war. Nachbarn wurden verhaftet oder verschwanden einfach. Traf man Juden, ging es nur darum, wer, wie und wann Deutschland verlassen könne. Es herrschte Freude, wenn man auf jemanden traf, der ausreisen konnte.


Abraham Ebe musste jährlich eine Erlaubnis einholen, um seinen Beruf als Sattler und Portofeuilleur auszuüben. Ab 1936 bekam er die Erlaubnis nicht mehr. Es fehlte an Geld für das Essen, für die Miete. Die Familie verarmt langsam. Esther verlässt deswegen, aber auch wegen der Übergriffe im Jahre 1935 die Schule; andere Schüler verlassen ebenso die Institution wegen der zunehmenden Aggressionen.Allmählich verlassen alle Kinder das Philanthropin. Rosa hilft der Mutter zu Hause, Leo beginnt eine kaufmännische Lehre, Esther versucht von der Mutter nähen zu lernen. 1935 beginnt sie bei einer Hutmacherin auf der Zeil eine Lehre als Putzmacherin. Die Devise der Eltern ist, die Kinder sollten vieles so gut beherrschen, um überall überleben zu können.


Und wieder muss die Familie wegen der finanziellen Notlage umziehen:


„Im Jahre 1936 musste mein Vater sein Geschäft wegen des Boykotts gegen jüdische Geschäfte aufgeben. Danach richtete er sich in unserer Wohnung in der Hanauer Landstraße 27 ein Zimmer als Handwerksstube ein und arbeitete inoffiziell weiter, verdiente jedoch nicht genügend zur Bestreitung unseres Lebensunterhalts.“ Er arbeitet heimlich in einem Verschlag im hinteren Teil der Wohnung. Nachts brachte er die angefertigten Taschen etc. unter einem weiten Mantel heimlich zu den Auftraggebern, potentiellen Käufern.


Die Auswirkungen des Boykotts der jüdischen Geschäfte schildert Ernest I. Erbesfeld, selbst von den Maßnahmen in 1938 gegen polnische Juden betroffen, 1957 in seiner eidesstattlichen Erklärung aus New York (HHStAW 518, 55556). „Ich stand mit Herrn Abraham Ebe in geschäftlicher Verbindung. Er besaß in Frankfurt am Main, Lenaustraße, ein offenes Ladengeschäft für Lederwaren mit anschließender Werkstatt. Er erzeugte unter anderem auch Handtaschen, womit er auch meine Firma I.& E. Erbesfeld, Lederwarenfabrikation, Frankfurt am Main, Zeil, in den Jahren 1934-1936 belieferte. Als er 1936 wegen des Boykotts gegen jüdische Geschäfte seinen Laden aufgeben musste, richtete er sich in seiner Wohnung Hanauer Landstraße eine Werkstatt ein und verrichtete Heimarbeit bis zu seiner Ausweisung im Oktober 1938. - Bis 1936 hatte Herr Ebe ein gutgehendes Geschäft. Sein damaliges Einkommen schätze ich auf mindestens RM 6000  jährlich, während er mit der Heimarbeit von 1936-1938 kaum noch die Hälfte verdient haben dürfte.„


Viele Juden versuchen, Deutschland zu verlassen. Auch die Eltern Ebe denken, so erzählt Esther, an eine Emigration in die USA. Leo brachte ein New Yorker Telefonbuch aus dem Jahre 1937 mit. Sie suchten nach jüdischen Namen und schrieben diese an, mit der Bitte um ein Affidavit. Leo scherzte, dass die Mutter dann in USA einmal „Mrs. Ibi“ heißen würde.

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